"Schreiben bedeutet, auf der Linie des Geschriebenen über Abgründen balancieren." Amsél

 

Wiedersehen in Tanger: Leseprobe

 

Später berichteten Einheimische, Touristen und Wüstentrecker, die sich zu jenem Zeitpunkt auf halber Höhe des Hohen Atlas, jedenfalls über dem Sandnebelmeer, befunden hatten, in diversen Blogs, sie hätten am Himmel über der Hamada eine schwarze Wolkenwand auffahren sehen. Mit hoher Geschwindigkeit habe sie sich auf den Nordrand der Sahara zubewegt. Ein Triangel Zugvögel und zarte Schlieren seien ihr voran geschwebt, fast wie Bannerträger, die eine Prozession ankündigen. Bald darauf sei der Himmel erzittert. Man habe phantastische Blitze gesehen, die sich zuhauf über der Ebene entladen hätten, gefolgt von ohrenbetäubendem Donnerschlag, der einem bis ins Gebirge hinauf einen Schauer über den Rücken gejagt habe. 

     Im Schritttempo erreichten Chaya und Tarik den Platz vor dem Ksar Kulshi, dessen Umrisse diffus zu erkennen waren. Unter den Pneus knirschte Kies, als Chaya durch die Nebel- suppe auf einen Sandplatz fuhr, den ein schiefes Schild am Eingang als Parkplatz kennzeichnete; bis auf zwei Kastenwagen von Hertz war er leer. In dieser Minute schob sich eine dunkle Wolkenwand von Norden herkommend vor die Sonne – und jäh verwandelte sich jetzt alles in eine düstere Unterwelt. Chaya stellte den Motor ab und knipste das Notlämpchen an. 

     »Ich habe dich gewarnt«, klagte Tarik, »wir hätten im Hotel bleiben sollen.« 

»Sie braucht nur einzusteigen«, murmelte Chaya nervös, griff nach dem Handy, das auf dem Armaturenbrett lag, und wählte Thelmas Nummer. Eine Automatenstimme teilte mit, der Empfänger sei vorübergehend nicht erreichbar. Daraufhin kurbelte sie das Autofenster herunter in der Hoffnung, Thelma rufen zu hören, doch es drang nur Staub herein. Sie hustete und schloss das Fenster. »Was sollen wir tun?«, fragte sie beunruhigt und tastete nach Tariks Hand. 

»Ich gehe sie suchen«, sagte er entschlossen, »sie kann nicht weit sein. Dort drüben stehen zwei Autos, eben konnte man sie noch sehen. Die gehören bestimmt zur Filmequipe.« 

     »Man kann nicht mal mehr seine eigene Hand erkennen! Wie willst du sie da fnden?«, sorgte sich Chaya und wählte erneut Thelmas Nummer. Wieder vergeblich.

 

»Habibdi, ich bin Tetouani, Tanjaoui und Marrakchi, und ebenso bin ich Sahraoui. Seit Jahrhunderten überleben meine Vorfahren auf diesem Boden, ich schaffe das. Sorge dich nicht.« Tarik löste sich aus Chayas Griff, küsste ihre Fingerspitzen und stiess die Autotür auf. Nicht weit weg war dumpfes Grollen zu hören.»Hast du das Handy?«, rief Chaya ihm nach. 

     Tarik griff in seine Westentasche und zog es heraus: »Ja, aber der Akku ist leer, habe vergessen, ihn aufzuladen. Egal, die Verbindung funktioniert eh nicht.« 

     »Das darf nicht wahr sein«, stöhnte sie auf. Schon wieder hatte er es versäumt, so etwas Alltägliches zu erledigen. »Die Verbindung ist vorübergehend blockiert, hörst du? Vorüber- gehend! Wozu hat man diese verdammten Geräte!?«, schrie sie ihm hinterher, obwohl der Nebel seine Gestalt bereits verschluckt hatte. Sie hörte noch sein unsicheres Lachen.

     Verkrampft umklammerten ihre Hände das Lenkrad. Der Nebel war so dicht geworden, dass sie die Spitze der Kühlerhaube nicht mehr erkennen konnte. Sie schaltete das Radio ein und suchte einen französischen oder englischsprachigen Sender, aber sie hörte nur verzerrte Stimmen und ein Knistern und Rauschen, das plötzlich von einem Geräusch draussen übertönt wurde. Starke Windböen schleuderten aufgewirbelten Sand und Kies auf die Karosserie. Im Nu war die Windschutzscheibe von Sand bedeckt. Gleichzeitig wurde an manchen Stellen der Staubnebel aufgerissen, so dass die Sicht auf eine imposante Lehmfestung mit quadratischen Türmen und Zinnen freigegeben wurde. In der Frontalmauer führte ein mit Ornamenten verziertes Portal ins Innere. Chaya spähte durch das Seitenfenster. Von Tarik und Thelma war nichts zu sehen. 

     Ein pflaumengrosser Regentropfen zerplatzte auf der Windschutzscheibe und zeichnete eine Rinne in den Staub. Gleich danach setzte der angekündigte Regen ein. Chaya betätigte die Scheibenwischer und wartete auf Tarik und Thelma. Während sie den Blick gebannt auf das Ksar-Portal heftete, verwischte sich dessen Kontur durch den Wasservorhang erneut. Der Regen wurde stärker. In der Nähe entluden sich Blitze, gefolgt von Donnerschlägen. Vor dem Ksar bildeten sich Rinnsale, die Schutt und Pflanzenmaterial mit sich schwemmten und zu Tümpeln zusammenliefen. Endlich gewahrte Chaya eine Gestalt, die aus dem Portal gestürzt kam. Sie stiess die Autotür auf – sofort peitschte sandiger Regen herein – und schrie Tariks und Thelmas Namen, doch die Person reagierte nicht. Sie hielt eine grüne Jacke über den Kopf und lief der Festung entlang, bog an deren Ende um die Ecke und verschwand. 

     Wieder und wieder wählte Chaya Thelmas und Tariks Nummer. Als nach vier Stunden noch immer keine Verbindung zustande kam und die Automatenstimme nur noch als schwacher Pfeifton zu hören war, resignierte sie. Inzwischen hatte der Regen sintflutartige Ausmasse angenommen. Myriaden von Tropfen peitschten gegen die Karosserie, und ringsum begann das Wasser zu steigen. Verzweifelt versuchte sie, den Motor anzulassen, um näher an den Ksar heranzufahren, aber ausser einem Heullaut machte er keinen Wank mehr.      Wie paralysiert vergrub sie das Gesicht in den Armen über dem Lenkrad und lauschte auf das unheimliche Rauschen und Trommeln des Regens und das Ächzen und Heulen des Win- des. Lange blieb sie in dieser Haltung. Es gab nichts, was sie hätte tun oder unternehmen können, ausser abzuwarten und zu hoffen, dass das Unwetter sich bald legen und alles wieder normal werden würde.